Freitag, 19. April 2024
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Neufahrwasserweg: „Dumm und schmalspurig gelaufen!“

Neufahrwasserweg: Fußweg schmaler als ein Rollator

Von Michael Springer

„Wie breit müssen Gehwege eigentlich sein?“ — In Marzahn-Hellersdorf wurde eine neue „Untergrenze“ definiert: Im Neufahrwasserweg, einer Nebenstraße, wurde durch Aufmalen eines weißen Trennstreifens eine Restbreite von ganzen 40 Zentimetern für den „Bürgersteig“ geschaffen.

Der Bezirk bekommt damit eine ganz neue Popularität: Die Nachricht vom 28.Juli 2021 „Neufahrwasserweg mit neuem Gehweg für ganz „schmale Menschen““ hat bundesweite Aufmerksamkeit erfahren und wurde auch über soziale Netzwerke wie Twitter breit geteilt.

Nach Katja Oskamps „Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin“ geht nun die Geschichte eines Fußwegs „steil“.

Sogar die rbb-Abendschau fand gestern abend kurz vor 20 Uhr ein paar kurze Worte, schaltete aber nur Standbilder. Für ein Drehteam war es wohl ein zu weiter Weg.

Die durchgehende Linie und das aufgemalte Fußgänger-Zeichen kosteten rund 5.000 Euro und schaffen nun eine kuriose „Sehenswürdigkeit“, die zum Sinnbild einer „gedankenfreien Mobilitätspolitik“ wird.

„Es ist dumm gelaufen“ — das gibt man hinter vorgehaltener Hand im Verantwortungsbereich von Nadja Zivkovic (CDU) zu , zuständige Bezirksstadträtin für Wirtschaft, Straßen und Grünflächen.

CDU-Direktkandidat Mario Czaja kümmerte sich auf Anfrage eines Anwohners um die Geschichte und fragte schriftlich nach. Die Antwort von Stadträtin Zivkovic im O-Ton:

„Die Lösung sieht auf den ersten Blick sehr unglücklich aus, ließ sich aber nur bedingt umsetzen. Sollten Sie oder andere Bürger dennoch Probleme habe oder sich an der Situation stören, würde ich mich freuen, wenn Sie sich noch einmal an mich wenden.“

Es ist vor allem gefährlich, weil Fußgehende nun von den Seitenspiegeln vorbeifahrender Autos getroffen und verletzt werden können — und um Poller herumlaufen müssen!

Entscheidungsnot zwischen Bürgerfreundlichkeit und Bauvorschriften

Die Entscheidungsgründe für die Herstellung der Gehweg-Markierung zeigen exemplarisch, wie in Marzahn-Hellersdorf abseits von Baurecht, Straßenverkehrsordnung und Mobilitätsgesetz ein „eigenständiges Rechtsgebiet“ erschaffen wird, das Marzahn-Hellersdorf aus der Rechtseinheit von Land Berlin und Bundesrepublik Deutschland herauslöst:

Zivkovic: „Hintergrund für diese Maßnahme im Neufahrwasserweg waren Gespräche mit den Anwohnerinnen und Anwohnern des Neufahrwasserweges, die die verkehrlicheSituation für Fußgängerinnen und Fußgänger in dieser Straße sehr bedenklich empfanden. Es waren insbesondere junge Eltern, die große Sorge um Ihre Kinder hatten.
Nach Aussage der Anwohnerinnen und Anwohner ist es bisher zu einer Häufung von Beinaheunfällen zwischen Fußgängern und Autofahrern gekommen, da den Autofahrern offenbar nicht bewusst ist, das der Neufahrwasserweg (Einbahnstraße), von Fußgängern in beide Richtungen begangen wird. Und die Fußgänger, häufig kleine Kinder, aus den Grundstücken treten und direkt auf der Straße stehen und damit unmittelbar dem Autoverkehr ausgesetzt sind.


Zusätzlich erzeugt die schmale Straße Gefahrenpotential, da die Autos häufig nicht in der Mitte der Straße fahren , den Fußgehenden ggf. nicht den notwendigen Sicherheitsabstand gewähren und mit überhöhter Geschwindigkeit fahren.

Schlussendlich wurde mit den Anwohnerinnen und Anwohnern vereinbart, einen Sicherheitsbereich mit Markierung und Sperrpollern für die Fußgänger einzurichten um dem Autofahrer deutlich aufzuzeigen, dass hier eine Begegnung mit Fußgängern stattfindet. Die baulichen Gegebenheiten vor Ort ließen allerdings keine andere dem Sicherheitszweck dienliche Maßnahme zu.
Die Straße ist sehr schmal, so dass andere Maßnahmen leider nicht möglich waren.
Die Ausweisung als Anliegerstraße wird von den Verkehrsteilnehmenden sehr häufig missachtet, so dass das keine geeignete Lösung darstellte, um einen besseren Schutz für die Fußgänger herzustellen. Es handelt sich um einen Sicherheitsbereich für Fußgänger, um die Autofahrer auf diese hinzuweisen.“


Stadträtin Zivkovic strebt die Amtsnachfolge von Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle an, und sah sich deshalb offenbar in besonderer Entscheidungsnot, sie bekräftigte gegenüber Herrn Czaja:

Ich kann Ihnen bestätigen, dass sich Anwohner vor Ort über die Missachtung der Einbahnstraßenregelung und den knappen Begegnungen von Fußgängern mit Autos beschwert haben.“

Neufahrwasserweg: schmalster Fußweg Berlins mit Poller - Foto: © J. Latwesen
Neufahrwasserweg: schmalster Fußweg Berlins mit Poller – Foto: © J. Latwesen

Über die Breite von Gehwegen im Allgemeinen

Der Fachverband Fußverkehr e.V. klärt grundsätzlich auf: „„Fußgänger müssen die Gehwege benutzen.“, so steht es in der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO, §25 (1)) und gemeint ist damit jede öffentliche Verkehrsfläche, die erkennbar dem Fußverkehr dienen soll.“

Die Rechtsfolge: Fußgänger müssen hier besonders geschützt sein, und baulichen Regelungen für die Sicherheit und den Komfort des Gehens sind deshalb besonders wichtig.

Die Hinzuziehung von geltenden Richtlinien und Fachregeln war im konkreten Fall angeraten, wie etwa die bundeseinheitlichen Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV in Köln.
Die „Empfehlungen für Fußgängeranlagen” (EFA) der FGSV sind eindeutig: Die Regelbreite beträgt 2,50 m“.

In Marzahn-Hellersdorf gastieren offenbar immer noch hemdsärmelige Reste alter DDR-Mentalität, die „eine Lösung vor Ort, mit Leuten von hier“ bevorzugen.
So steht Stadträtin Zivkovic nun haftungsrechtlich auf sehr dünnen Eis, denn wenn eine Person angefahren wird, urteilen ordentliche Gerichte über die Lage vor Ort, und über die bautechnische Sicherheit und Unfallabläufe.

Mindestbreite von Gehwegen im Erschließungsbeitragrecht

Einziger Ausweg, wenn der Platz allzu knapp ist: der Blick ins Erschließungsbeitragsrecht, weil hier Gerichte Mindestbreiten für „beitragsfähige“ Gehwege definiert haben:
„Legt man mit den genannten Empfehlungen für einen Fußgänger eine Grundbreite von 55 cm zu Grunde und veranschlagt zusätzlich beidseitig einen Bewegungsspielraum von jeweils 10 cm, so ergibt sich für den notwendigen Verkehrsraum eines Fußgängers eine Mindestgehwegbreite von 75 cm.“
Das Forschungsinformationssystem der TU Dresden zeigt die geltenden Regeln zur „Dimensionierung von Fußgängerverkehrsanlagen“ nach dem Stand des Wissens auf.

WAHLPRÜFSTEIN Neufahrwasserweg — was plant die Bezirkspolitik?

Der Neufahrwasserweg ist jetzt ein Präzedenzfall für die Mobilitätspolitik in Marzahn-Hellersdorf. Anwohnende und Bürgerinnen und Bürger und vor allem spielende Kinder und alle Autofahrenden haben einen Anspruch auf sichere Verkehrsverhältnisse.
Besonders im Blick sind nun die designierten drei Kandidat:innen für das Amt des Bezirksbürgermeisters:
Mitten im Berliner Wahlkampf sind nun Gordon Lemm (SPD), Juliane Witt (DIE LINKE) Nadja Zivkovic (CDU) zur „Entscheidungs-Werkstatt — Neufahrwasserweg“ eingeladen! — „Wie werden sie sich entscheiden?“.



Einfach.SmartCity.Machen: Berlin!Freie Lokalpresse ist wichtig! „Schwurbelsprache und Schwurbel-Logiken im Amt“ und Unkenntnis von Fach- und Entscheidungsregeln müssen offen benannt werden! — Das Mediennetzwerk Berlin mit 12 Bezirkszeitungen hilft dabei, die intelligente und soziale Stadt zu bauen! Smart Citizenship hilft: keine Leser-Paywalls, alles öffentlich – und im Zweifel „voll peinlich“ für die „Ertappten“.
Sachdienliche Hinweise: info@marzahn-hellersdorf-zeitung.de